Zugfahren in Indien
Das Zugfahren in Indien laeuft human ab. Aus einem westlichen Land stammend ist man wohl nicht gewoehnt, in einem Zug keinen Sitzplatz zu bekommen. In einem Land mit ueber einer Milliarde Menschen ist das wohl anders. Und als kleiner Einstieg in das Thema Zugfahren kann ich nur sagen: Wenn sich diese Szenen in Deutschland abspielen wuerden, wuerde es jeden Tag tausende Tote geben. Deshalb ist es wohl gerechtfertigt, das unglaubliche Spektakel als human zu bezeichnen.
Es faengt an, mit dem Ticket. Am besten bucht man es im Internet ohne Stress. Das kostet jedoch einen Aufpreis von ca. 50 INR, bei einem selbstgesetzten (und die letzten Wochen auch locker eingehaltenen) Budget von 10 Euro am Tag, indiskutabel 😉 Auch setzt die Buchung im Internet voraus, dass man weiss, welchen Zug man nehmen moechte, man muss die Zugnummer kennen. Da verschiedense Zuege jeweils mit verschiedenen Wagen ausgestattet sind, sind nicht in jedem Zug Schlafwagen oder alle anderen Klassen verfuegbar. Auch die Abfahrtszeiten und die Dauer variieren stark. Man ist also in den meisten Faellen auf die Beratung am Schalter angewiesen.
Am Schalter
…stellt sich die Frage, welcher Schalter. Denn laengst nicht ueberall sind die Anschlaege in Englisch, sonder oftmals in Hindi. Findet man mit viel Fragen den richtigen Schalter, geht der erste Kampf los. Die Schlange. Die Schlange besteht aud ca. 6 Schlangen. Links, getrennt von den weiblichen Fahrgaesten rechts, stehen die maennlichen Fahrgaeste. Links und rechts von den maennlichen Fahrgaesten wie sowohl links und rechts von den weiblichen Fahrgaesten stehen die Draengler. Da so gut wie niemals eine weibliche Person in der Schlange fuer weibliche Fahrgaeste (Ausnahme allein reisende Touristinnen) steht, stehen auch hier die Draengler. Steht man selber hier, weil man ein Hinweisschild uebersehen hat oder nach 2 Stunden warten das draengeln probieren moechte, wird man freundlich darauf hingewiesen, dass diese Schlange ausschliesslich fuer weibliche Fahrgaeste ist. Sieht man danach in dieser weibliche Schlange, in der nur Maenner stehen, die Person, die einem den freundlichen Hinweis gab, sieht man dieselbe Person vor seinem inneren Auge sterben. Mit dem Rucksack auf dem Rucken und dem anderen auf dem Bauch, meistens (selbst ich) ein Stueck grosser als die indische Masse, wird man also zum Rempler, der jedem Inder, der sich an einem vorbei zu schmuggeln sucht, mit angelegtem Arm einen dermassen heftigen Schubser und ein „excuse me…“ verpasst, dass er es nicht nochmal probiert. Am Schalter bekommt man dann entweder sein Ticket oder stellt mit Frustration fest, dass auf diesem Zug kein passender Platz mehr frei ist. Doch noch ist nicht alles verloren. Denn neben den Ticketschaltern gibt es doch noch den „Reservation“-schalter, andem man fuer die Zukunft Zuege reservieren kann. Um sich nur einmal anzustellen, bucht man am besten ein oder zwei Tage im voraus sein Ticket am „Reservation“-schalter.
Am „Reservation“-schalter
sucht man zunaechst den Schalter, an dem man nichts anderes machen kann, als „enquiry“ Vordrucke zu ergattern. Am besten plant man pro Ticket bis zu drei Vordruecke ein. Denn ohne Vordruecke geht nichts am eigentlichen Schalter. Keine Auskunft ohne ausgefuellten Vordruck. Kein Ticket ohne ausgefuellten Vordruck. Und was gehoert auf den Vordruck? Eine Zugverbindung, sprich Zugnummer, Abfahrts- und Ankunftsort, Datum und gewuenschte Klasse sowie persoenliche Daten wie Name, Geschlecht, Alter und Heimatadresse. Also sucht man sich in den riesigen Hallen auf einer gedruckten Tafel eine Verbindung, die passen koennte und notiert diese einfach, ohne zu wissen, ob der Zug ueberhaupt ueber die gewuenschte Klasse verfuegt oder an einem speziellen Tag zu einer gewissen uhrzeit ueberhaupt faehrt. Am besten man hat immer ein paar Vordrucke und einen Kugelschreiber in der Tasche. Den Kugelschreiber leiht man am besten niemandem. Denn am Schalter sind etliche Korrekturen noetig. Selbstverstaendlich hat man diese selber zu korrigieren, denn der indische Beamte ist zum Kassieren da, nicht um Touristen ihren Zettel auszufuellen. Gefaellt dem Beamten die Korrektur nicht, hat man eben einen neuen Vordruck auszufuellen – neben dem Schalter :-\. Sieht man den Inder, der sich vor 10 Minuten bewaffnet mit 10 ausgefuellte Vordruecken mit dem gleichen Reiseziel und -tag, jedoch verschieden Zugnummern oder Klassen,  noch vorgedrengelt hat resigniert weichen, sollte man keinesfalls seinem inneren Trieb folgen und ihn auslachen. Denn man selber ist erst noch dran. 😉 Auch sollte man keinem Inder seinen Stift leihen, es schadet extrem den Nerven, wenn man den „Gadhu“ vor sich am Schalter sieht, der eben noch hinter einem stehend nach einem „pen“ gefragt hat.
Alles in allem ist Zugfahren aber sehr einfach und guenstig. Die angenehmste Klasse ist der sleeper, der in der Nacht die Pritschen, die am Tage zum sitzen dienen, zu Liegen umfunktioniert. Die AC Klassen (Klimaanlage, 1 bis 3 Klasse) habe ich noch nicht getestet und werde es auch nicht tun, da die Erfahrungen mich wohl an die Busfahrt nach Ahmedabad erinnern wuerde, auf die ich gerne verzichten kann. Doch auch im sleeper kann es nachts kalt werden (Decke mitnehmen). Generell muss man sich die Waggons wie ein Passagierflugzeug aus den dreissiger Jahren ohne Fluegel und auf Schienen vorstellen, sprich es pfeifft der Wind aus allen Ecken. Aus den Radraeumen zwischen den Waggons, den windschiefen Tueren und auch aus den offenen oder geschlossenen Fenstern, je nach Geschwindigkeit. Doch sollte einen diese Schilderung keineswegs abschrecken! Zugfahren ist die angenehmste und komfortablste Art zu reisen. Im Zug werden staendig allerlei Getraenke (Wasser, Tee, Pepsi, Coke, Sprite etc.) und Leckereien (Chips, Platformfood, etc.) verkauft, man lernt die nettesten Inder (Reisende) kennen, die garantiert keine Verkauefer oder Schlepper sind und man huepft nicht staendig auf und ab, da die Schienen im vergleich zu den Strassen nunmal keine Schlagloecher haben.
Fuer die Raucher gibt es schlechte Nachrichten. Rauchen ist strengstens verboten und wird von den mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizisten kontrolliert. Doch auch fuer die Nichtraucher gibt es schlechte Nachrichten. Gibt man den Zugbegleitern ein Zigarettchen ab, sagen sie gerne Bescheid, wenn mal ein Polizist des Weges kommt. So ist es problemlos moeglich am Fenster zu rauchen, niemand fuehlt sich gestoert, allerdings sieht man gerne, wenn geteilt wird… Sollte es penetrante Nichtraucher (eigentlich nur Sikhs oder andere Touristen) geben, bewegt man sich eben auf die Toilette oder in den Bereich der (fast) immer offenen Tueren, der von den Zugbegleitern bewohnt wird. Wird man dennoch von einem Polizisten erwischt hat man ein ernstes Problem, denn in Indien werden die Gesetze, die teils nur dazu da sind, um ein Bakshish zu ermoeglichen, knallhart durchgesetzt. Sollte man die Art der Problemloesung scheuen, wird man von dem Polizisten die freundliche Geschichte hoeren, dass Indien ein GROSSES Problem mit Korruption hat und wirkliche jeder bestechlich ist. 50 INR sind angemessen. Allerdings sollte man bei dem Betrag daraufhinweisen, dass es sich um die Summe fuer alle (auch oder gerade die noch folgenden) Zigaretten handelt. Bedenken sollte man noch, dass es den zweiten Wachmann nicht kuemmert, wenn der erste bereits ein Bakshish erhalten hat 😉
Generell ist mir die Art der indischen Polizisten auf Zuegen sehr symphatisch. Als der stark alkoholisierte Inder (vlg. den Artikel Intermezzo – Der Flug) auf der 16 stuendigen Fahrt von Amritsar nach Agra im Bereich der Tueren und der Zugbegleiter Aerger macht, indem er jeden vorbeikommenden Reisenden, Zugbegleiter oder Polizisten in einem Mix aus Englisch und Hindi anpoebelt, versetzt ihm der erste Polizist halt ein blaues Auge. Von da an ist er ruhig, und darf weiter reisen. Kein Schriftkram. Problemloesung vor Ort ohne Buerokratie. Ueber den Punkt, dass der zweite Polizist, der eine Stunde spaeter des Weges kommt, das blaue Auge sieht und die Zugbegleiter nach dem Grund fragt, um ihm dann ein zweites blaues Auge zu verpassen, kann ich hinweg sehen. 😉 Ich glaube die Inder sehen das so: Der erste hat ihn fuer sein Verhalten bestraft, und der zweite fuer seine Besserung in der Zukunft gesorgt. Jedenfalls darf er weiter reisen.